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Im Ukraine-Krieg wird die Hoffnung auf eine Evakuierungsaktion für Zivilisten im eingekesselten Mariupol durch die Furcht vor noch heftigeren Angriffen der russischen Armee überschattet. Ein humanitärer Korridor aus Mariupol hinaus soll nach russischen Angaben am Freitagmorgen öffnen. Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj warnte in der Nacht vor "gewaltigen Angriffen" auf Mariupol und andere Orte. Aus Solidarität mit der Ukraine reiste EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola nach Kiew.
Ein humanitärer Korridor von Mariupol ins 220 Kilometer entfernte Saporischschja werde um 10.00 Uhr (Ortszeit; 09.00 Uhr MESZ) "wieder geöffnet", hatte das russische Verteidigungsministerium am Donnerstag erklärt. Die Maßnahme folge einem "persönlichen Appell" von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an Kreml-Chef Wladimir Putin. Sie solle "unter direkter Beteiligung von Vertretern des UN-Flüchtlingskommissars und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK)" umgesetzt werden.
Das IKRK will in 45 Bussen zahlreiche Menschen aus Mariupol herausholen und zugleich zwei Lastwagen voller Hilfsgüter in der belagerten Stadt entladen. In Mariupol sind seit Wochen zehntausende Zivilisten von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Die humanitäre Situation in der Hafenstadt wird von Hilfsorganisationen als katastrophal beschrieben. Evakuierungsversuche waren in den vergangenen Wochen mehrfach gescheitert.
Nach Selenskyjs Einschätzung müssen sich Mariupol und weitere Orte im Osten und Süden der Ukraine auf noch heftigere Angriffe Russlands einstellen. Dass die russische Regierung angekündigt habe, die Angriffe auf Kiew und Tschernihiw im Norden des Landes zurückzufahren, sei "Teil ihrer Taktik", sagte Selenskyj in der Nacht zum Freitag in einer Rede.
Die russische Armee wolle sich auf andere wichtige Gebiete konzentrieren, "in denen es schwierig für uns sein kann". Im Donbass, Mariupol und der Gegend um Charkiw seien "gewaltige Angriffe" zu befürchten. Ein hochrangiger Vertreter des US-Verteidungsministeriums warnte, dass Russland sich nun auf den Donbass konzentriere, könne zu einem "noch länger anhaltenden Konflikt" führen.
Militärexperten zufolge will Russland die Gebiete zwischen dem Donbass und der annektierten Krim-Halbinsel einnehmen. Der erbitterte ukrainische Widerstand in Mariupol ist dabei das Haupthindernis.
Die wochenlange Besetzung der Atomruine Tschernobyl gab die russische Armee derweil auf, wie die für das Sperrgebiet im Norden der Ukraine zuständige ukrainische Behörde am Donnerstagabend mitteilte. Später hieß es von der ukrainischen Atombehörde Energoatum, die Russen hätten ukrainische Soldaten mitgenommen, die sie seit Kriegsbeginn als Geiseln gefangen hielten.
Nach ihrem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar war der russischen Armee eine schnelle Eroberung des Landes nicht gelungen. Nach Erkenntnissen der USA und Großbritanniens haben Putins Berater den Kreml-Chef im Unklaren über Probleme bei der Ukraine-Invasion gelassen, was zu Fehleinschätzungen geführt habe. "Er scheint isoliert zu sein und es gibt Hinweise darauf, dass er ein paar seiner Berater gefeuert oder unter Hausarrest gestellt hat", sagte US-Präsident Joe Biden über Putin.
Als erste Chefin einer EU-Institution seit Kriegsbeginn wurde am Freitag die Europaparlamentspräsidentin Metsola in Kiew erwartet. Sie teilte am Donnerstagabend via Twitter mit, dass sie auf dem Weg in die ukrainische Hauptstadt sei.
Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, reiste nach einem Besuch in der Ukraine in die russische Exklave Kaliningrad. Dort wollte er am Freitag mit hochrangigen russischen Regierungsvertretern Gespräche führen.
Der Ukraine-Krieg hat weitreichende Auswirkungen auf den Energie-Markt. Biden kündigte wegen des hohen Erdölpreises an, ein halbes Jahr lang täglich eine Million Barrel aus den strategischen Ölreserven der USA freizugeben. Die Ölpreise an der New Yorker Börse fielen daraufhin um mehrere Prozent. Nach Putins Ankündigung, dass für Gaslieferungen in EU-Länder ab Freitag Rubel-Konten in Russland erforderlich sind, beharrte Kanzler Scholz, dass Gaslieferungen in Euro oder Dollar gezahlt würden.
O.Hofer--NZN