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Die Ukraine und der Westen haben Russland nach dem Fund hunderter toter Zivilisten nahe Kiew "Kriegsverbrechen" vorgeworfen. Die ukrainische Staatsanwaltschaft erklärte am Sonntag, im Großraum Kiew seien nach dem Abzug der russischen Truppen die Leichen von mehr als 400 Zivilisten entdeckt worden. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verurteilte die "Verbrechen der russischen Streitkräfte" im Kiewer Vorort Butscha und kündigte weitere Sanktionen gegen Moskau an. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem "Völkermord".
Die Leichen von 410 Zivilisten seien aus "den befreiten Gebieten in der Region Kiew in Sicherheit gebracht" worden, sagte die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa im Fernsehen. Experten hätten bereits 140 Tote gerichtsmedizinisch untersucht.
Die russische Armee hatte sich kürzlich aus der Region um Kiew zurückgezogen. Im Vorort Butscha wurden anschließend laut Angaben der ukrainischen Behörden mehr als 300 Leichen gefunden. AFP-Reporter berichteten, dass zahlreiche Toten zivile Kleidung getragen hätten. Sie sahen auf einer einzigen Straße in Butscha mindestens 20 Leichen liegen.
"Alle diese Menschen wurden erschossen", sagte Bürgermeister Anatoly Fedoruk. Nach seinen Angaben mussten 280 Menschen in Butscha in Massengräbern beigesetzt werden, da die drei städtischen Friedhöfe während der Kämpfe in Reichweite des russischen Militärs lagen. Am Sonntag meldeten die Behörden den Fund dutzender weiterer Leichen in Butscha. 57 Menschen seien in einem Massengrab verscharrt worden, teilten die Rettungskräfte mit.
"Die Ermordung von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen", sagte Scholz mit Blick auf die Leichenfunde in Butscha. "Diese Verbrechen der russischen Streitkräfte müssen wir schonungslos aufklären." Die Täter und die Auftraggeber der "Gräueltaten" müssten "zur Rechenschaft gezogen werden".
"Wir werden im Kreis der Verbündeten in den nächsten Tagen weitere Maßnahmen beschließen", fügte Scholz hinzu. Russlands Präsident Wladimir Putin und seine Unterstützer "werden die Folgen spüren, und wir werden der Ukraine weiterhin Waffen zur Verfügung stellen, damit sie sich gegen die russische Invasion verteidigen kann", betonte der Kanzler.
Auch andere westliche Staats- und Regierungschefs sowie die EU und die Nato äußerten sich entsetzt über die Vorfälle in Butscha. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron rief dazu auf, die russischen Verantwortlichen für "diese Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen". Der britische Premierminister Boris Johnson erklärte, die "Angriffe Russlands auf unschuldige Zivilisten" in den Kiewer Vororten seien ein weiterer Beweis dafür, "dass Putin und seine Armee in der Ukraine Kriegsverbrechen begehen".
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte dem US-Sender CNN, eine solche "Brutalität gegen Zivilisten" sei in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen worden. UN-Generalsekretär António Guterres reagierte "zutiefst schockiert" auf die "Bilder von getöteten Zivilisten in Butscha" und forderte eine "unabhängige Untersuchung". Nach Einschätzung des UN-Menschenrechtsbüros in Genf werfen die bisherigen Erkenntnisse "eindeutig ernsthafte und beunruhigende Fragen über mögliche Kriegsverbrechen und schwerwiegende Verletzungen des humanitären Völkerrechts auf".
Moskau dementierte die Tötung von Zivilisten durch russische Soldaten in Butscha. Das russische Verteidigungsministerium bezeichnete die Fotos und Videos von Leichen in den Straßen von Butscha als "eine weitere Produktion des Kiewer Regimes für die westlichen Medien".
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sprach hingegen von einem "absichtlichen Massaker" der russischen Armee in Butscha und forderte von der Gruppe sieben wichtiger Industriestaaten (G7) "neue verheerende" Sanktionen gegen Russland.
Selenskyj warf Russland einen "Völkermord" in der Ukraine vor. "Wir haben mehr als hundert Nationalitäten. Hier geht es um die Zerstörung und Vernichtung all dieser Nationalitäten", sagte Selenskyj dem US-Sender CBS.
Die ukrainische Regierung wertete den russischen Rückzug aus dem Großraum Kiew und der weiter nördlich gelegenen Region Tschernihiw als Beleg für einen Strategiewechsel: Moskau wolle sich stärker darauf konzentrieren, eroberte Gebiete im Süden und Osten der Ukraine zu halten.
Die russische Armee flog am Sonntag einen Luftangriff auf ein Industriegebiet nahe der südukrainischen Hafenstadt Odessa. Selenskyj erwartet auch "mächtige Angriffe" im Osten, vor allem auf das belagerte Mariupol. Die strategisch wichtige Stadt am Asowschen Meer steht seit Wochen unter massivem Beschuss der russischen Streitkräfte. Etwa 160.000 Zivilisten sollen in der weitgehend zerstörten Stadt festsitzen. Die humanitäre Situation ist katastrophal.
Auch in Kramatorsk in der Ostukraine wuchs die Furcht vor einer russischen Offensive. Am Sonntag flohen hunderte Menschen aus der nördlich von Donezk gelegenen Stadt.
Seit Beginn des Kriegs am 24. Februar wurden nach ukrainischen Angaben bereits 20.000 Menschen getötet. Fast 4,2 Millionen Menschen flohen außer Landes, wie die UNO mitteilte. Nach Angaben Kiews kehrten aber mehr als 500.000 Ukrainer inzwischen wieder in ihre Heimat zurück.
P.E.Steiner--NZN