Zürcher Nachrichten - Chefankläger des IStGH bezeichnet gesamte Ukraine als "Tatort"

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Chefankläger des IStGH bezeichnet gesamte Ukraine als "Tatort"
Chefankläger des IStGH bezeichnet gesamte Ukraine als "Tatort" / Foto: Andrey BORODULIN - AFP/Archiv

Chefankläger des IStGH bezeichnet gesamte Ukraine als "Tatort"

Wegen möglicher Kriegsverbrechen in der Ukraine haben Ermittler des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) sich am Mittwoch ein Bild der Lage vor Ort gemacht. Der Chefankläger des IStGH, Kharim Khan, bezeichnete die gesamte Ukraine bei einem Besuch in Butscha als "Tatort". US-Präsident Joe Biden hatte Russlands Staatschef Wladimir Putin zuvor vorgeworfen, in der Ukraine "Völkermord" zu begehen. Der Kreml wies den Vorwurf als "inakzeptabel" zurück.

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Anfang April waren in Butscha nach dem Abzug russischer Truppen die Leichen hunderter Zivilisten entdeckt worden. Die ukrainischen Behörden sprechen von Morden durch das russische Militär, Moskau weist die Vorwürfe zurück. "Wir sind hier, weil wir Grund zur Annahme haben, dass Verbrechen begangen werden, die in den Zuständigkeitsbereich des Gerichts fallen", sagte Chefankläger Khan.

Laut einem Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gibt es zahlreiche Hinweise auf schwere Menschenrechtsverletzungen der russischen Truppen seit ihrer Invasion der Ukraine. So gebe es unter anderem "glaubwürdige Beweise" für Folter und Misshandlungen sowie für gezielte Tötungen und Entführungen von Zivilisten.

US-Präsident Biden warf Putin vor, er wolle "die bloße Idee auslöschen, ein Ukrainer sein zu können". Letztlich müsse auf internationaler Ebene von Gerichten entschieden werden, ob es sich bei den Verbrechen an Zivilisten in der Ukraine um Völkermord handele. "Für mich sieht es aber definitiv so aus", sagte Biden am Dienstag.

Der Kreml wies die Vorwürfe am Mittwoch entschieden zurück. "Wir sind kategorisch anderer Meinung und halten jeden Versuch, die Situation auf diese Weise zu verzerren, für inakzeptabel", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte indes, dass Russland weitere Länder in Europa mit Krieg überziehen könnte. "Wir können Russland entweder aufhalten oder ganz Osteuropa verlieren", sagte er in einer Videoansprache im estnischen Parlament.

Die Präsidenten Polens und der baltischen Staaten reisten am Mittwoch als Zeichen der Solidarität in die Ukraine und besuchten die schwer vom Krieg gezeichnete Stadt Borodjanka. "Es ist schwer zu glauben, dass solche Kriegsgräuel im Europa des 21. Jahrhunderts verübt werden können, aber das ist die Realität", sagte der litauische Staatschef Gitanas Nauseda.

Ursprünglich wollte auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mitreisen, er war aber von der ukrainischen Regierung abgewiesen worden. Die Entscheidung der Ukraine gilt als ungewöhnlicher diplomatischer Affront und als klares Anzeichen dafür, wie tief die Unzufriedenheit mit der deutschen Politik in der Ukraine ist.

Die russische Armee versuchte derweil weiterhin, das südostukrainische Mariupol vollständig einzunehmen. Nach ukrainischen Angaben wurden in der strategisch wichtigen Hafenstadt mittlerweile mindestens 20.000 Menschen getötet. Das Verteidigungsministerium in Moskau vermeldete, 1026 ukrainische Soldaten hätten am Mariupoler Iljitsch-Stahlwerk "freiwillig ihre Waffen niedergelegt und sich ergeben".

Nach dem Rückzug seiner Truppen im Norden der Ukraine hatte Russland angekündigt, den militärischen Fokus verstärkt auf den Donbass zu richten. Die ukrainischen Behörden gehen von einer unmittelbar bevorstehenden russischen Großoffensive in der Ostukraine aus und appellieren seit Tagen an die Bevölkerung im Donbass, die Region zu verlassen.

Mehr als 40.000 Menschen verließen nach UN-Angaben vom Mittwoch innerhalb der vergangenen 24 Stunden die Ukraine. Die Zahl der ukrainischen Flüchtlinge im Ausland stieg damit auf 4,6 Millionen.

Bei russischen Angriffen in der Region um die Großstadt Charkiw starben nach ukrainischen Angaben mindestens sieben Menschen. In der zentralukrainischen Industriestadt Dnipro liegen nach Angaben des stellvertretenden Bürgermeisters "mehr als 1500 tote russische Soldaten in den Leichenhäusern". Angaben der Kriegsparteien zu getöteten und verletzten Soldaten beider Seiten gehen weit auseinander und sind unabhängig kaum zu überprüfen.

P.Gashi--NZN