Zürcher Nachrichten - Verhandlung am Bundesverfassungsgericht über neues Wahlrecht beginnt mit Empörung

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Verhandlung am Bundesverfassungsgericht über neues Wahlrecht beginnt mit Empörung
Verhandlung am Bundesverfassungsgericht über neues Wahlrecht beginnt mit Empörung / Foto: Tobias SCHWARZ - AFP/Archiv

Verhandlung am Bundesverfassungsgericht über neues Wahlrecht beginnt mit Empörung

Mit heftigen Vorwürfen und Empörung hat am Dienstag vor dem Bundesverfassungsgericht die Verhandlung über die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition begonnen. Von einem "fundamentalen Verstoß gegen Grundsätze unserer Verfassung" sprach CDU-Chef Friedrich Merz. Der Linken-Politiker Gregor Gysi äußerte den Verdacht, dass eine Bundestagsmehrheit ihre Mehrheit missbraucht habe, "um die Möglichkeit zu schaffen, zwei Parteien aus dem Bundestag zu drängen." (Az. 2 BvF 1/23 u.a.)

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Gysi meinte damit seine eigene Partei und die CSU. Beide könnten von der im vergangenen Jahr vom Parlament beschlossenen Reform besonders betroffen sein. Denn diese besteht aus zwei Kernpunkten - der Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten sowie der Abschaffung der sogenannten Grundmandatsklausel.

Ziel der Reform ist, dass der Bundestag kleiner werden und in Zukunft nur noch 630 Abgeordnete zählen soll. Bislang war es so, dass eine Partei Überhangmandate bekam, wenn sie mehr Wahlkreise gewann, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustanden. Für die anderen Fraktionen gab es dann Ausgleichsmandate. So wurde der Bundestag immer größer.

Um dieses Anwachsen zu verhindern, sollen die Mandate zukünftig komplett anhand der Mehrheitsverhältnisse bei den Zweitstimmen vergeben werden. Wahlkreisgewinner ziehen also nur dann in den Bundestag ein, wenn ihr Mandat von dem Kontingent gedeckt ist. Es könnte passieren, dass einige von ihnen keinen Sitz im Bundestag erhalten.

Dies könne zu "verwaisten Wahlkreisen" führen, befürchtete Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU). So könnten Regionen unterrepräsentiert bleiben, argumentierte er in Karlsruhe. Vor allem seien Parteien betroffen, die nur in einem Bundesland zur Wahl antreten, was bei der CSU der Fall ist.

Auch der Wegfall der Grundmandatsklausel könnte die CSU treffen, wenn sie ein besonders schlechtes Ergebnis holen sollte. Vor allem aber gefährdet er die Linkspartei. Bislang zogen Parteien auch dann mit der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie an der Fünfprozenthürde scheiterten, aber mindestens drei Direktmandate gewannen.

Das war 2021 bei der Linken der Fall. Sie bildete zunächst eine Fraktion, bevor diese sich wegen des Überlaufens von Linke-Abgeordneten zum neuen Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) auflöste. Inzwischen bilden die Linke-Abgeordneten im Bundestag eine sogenannte Gruppe.

Das Ende der Grundmandatsklausel wurde im vergangenen Frühling recht kurzfristig beschlossen. Auch das stört Union und Linke. Sie bemängelten einen "in großer Eile verabschiedeten Überraschungsakt", wie Gerichtsvizepräsidentin Doris König in ihrer Einführung sagte.

"Mir ist die Tragweite im Hinblick auf die CSU in diesem Augenblick nicht klar gewesen", berichtete Merz. Dagegen sagte die Bevollmächtigte der Bundesregierung, Sophie Schönberger, der Sachverhalt sei "extrem einfach - die Fünfprozenthürde gilt für alle, es gibt keine Ausnahme mehr."

Neben der bayerischen Staatsregierung sowie der CSU, 195 Mitgliedern der Unionsfraktion im Bundestag, der Linkspartei und ihrer früheren Fraktion hatten sich auch Linken-Abgeordnete und mehr als 4000 Privatpersonen, gebündelt vom Verein Mehr Demokratie, an das Gericht gewandt. Die Fünfprozenthürde sei nicht in Stein gemeißelt, argumentierte dessen Vorstandssprecher Ralf-Uwe Beck in Karlsruhe. Sie müsse neu justiert werden.

Vertreter der Regierungsfraktionen verteidigten die Reform. "Das Wahlsystem ist fair", sagte etwa der SPD-Abgeordnete Sebastian Hartmann vor Beginn der Verhandlung. Es gebe "keinerlei Verzerrung mehr". Die Menschen in Deutschland hätten "kein Verständnis dafür, wenn der Bundestag immer größer wird", sagte der FDP-Politiker Konstantin Kuhle. Er sehe dem Verfahren in Karlsruhe "mit Gelassenheit und auch mit einer Portion Optimismus" entgegen.

Das Bundesverfassungsgericht will zwei Tage lang verhandeln. Am Dienstagnachmittag sollten Sachverständige angehört werden. Ein Urteil fällt erfahrungsgemäß einige Monate nach der mündlichen Verhandlung, Vertreter der Fraktionen rechneten noch in diesem Jahr damit. Viel Zeit hat das Gericht nicht - denn schon im Spätsommer oder Herbst 2025 soll die nächste Bundestagswahl stattfinden.

W.F.Portman--NZN