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Knapp zwei Wochen nach dem Sturz des syrischen Machtshabers Baschar al-Assad laufen die diplomatischen Bemühungen um eine Stabilisierung des Landes auf Hochtouren. Erstmals seit 2011 reisten am Freitag Diplomaten aus den USA zu Gesprächen mit den neuen Machthabern in das Land, unter anderem zu einem Treffen mit dem Anführer der islamistischen Miliz Hajat Tahrir al-Schams (HTS), Mohammed al-Dscholani. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) reiste ihrerseits zu Syrien-Gesprächen in die Türkei. Die UN-Migrationsorganisation (IOM) rief unterdessen dazu auf, die bisherigen Sanktionen gegen Syrien zu überdenken.
Nach dem Treffen zwischen al-Dscholani, der inzwischen unter seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Scharaa.auftritt, und der US-Delegation sagte ein syrischer Regierungsvertreter der Nachrichtenagentur AFP, dieses sei "positiv" verlaufen. "Die Ergebnisse werden positiv sein, so Gott will"; fügte er an.
Das US-Außenministerium hatte im Vorfeld der Syrien-Reise erklärt, die Diplomaten würden sich im Land auch mit Aktivisten, Angehörigen von Minderheiten und Vertretern der Zivilgesellschaft treffen. Wenige Tage nach dem Sturz Assads hatte US-Außenminister Antony Blinken während einer Reise durch mehrere Nachbarstaaten Syriens bereits erklärt, seine Regierung stehe in direktem Kontakt zur HTS-Miliz, die Assad zusammen mit verbündeten Gruppen gestürzt hatte. Die USA und weitere westliche Staaten führen die HTS offiziell nach wie vor als Terrororganisation.
Eine eigentlich in Damaskus geplante Pressekonferenz der US-Delegation wurde aus "Sicherheitsgründen" abgesagt. Zur US-Delegation gehörte dem Außenministerium zufolge neben der Nahostbeauftragten Barbara Leaf auch Roger Carstens, der Experte der US-Regierung für Geiselnahmen, der sich mehrerer vermisster US-Bürger annehmen sollte - darunter der 2012 entführte Journalist Austin Tice.
In den Tagen zuvor hatten mehrere westliche Staaten ihre diplomatischen Kontakte zur syrischen Übergangsregierung intensiviert und HTS-Vertreter getroffen, darunter Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Die Türkei und Katar, die den nun regierenden Assad-Gegnern besonders nahestehen, eröffneten bereits ihre Botschaften wieder.
Am 8. Dezember war der jahrzehntelangen gewaltsamen Herrschaft der Assad-Familie in Syrien durch eine Großoffensive von Kämpfern unter der Führung der HTS ein Ende gesetzt worden. Assad floh außer Landes. Die neuen Machthaber setzten eine Übergangsregierung ein, die versprach, die Rechte aller Syrer schützen zu wollen.
Ursprünglich ist die HTS aus der Al-Nusra-Front, dem syrischen Ableger von Al-Kaida hervorgegangen. Allerdings hat sie nach eigenen Angaben seit 2016 keine Verbindungen mehr zu dem Terrornetzwerk und präsentiert sich inzwischen als moderat.
Bundesaußenministerin Baerbock reiste unterdessen für Gespräche zur Lage in Syrien in deren Nachbarland Türkei. Die Zukunft Syriens hänge noch "an einem seidenen Faden", sagte sie vor ihrem Abflug. Mit Blick auf die kurdische Bevölkerung im Norden des Landes sagte sie, die Menschen in der an der Grenze zur Türkei gelegenen mehrheitlich kurdischen Stadt Kobane würden "neue Gewalt" fürchten.
Die Türkei spielt in ihrem Nachbarland Syrien eine entscheidende Rolle. Sie ist eine wichtige Unterstützerin der HTS.
Die Türkei hatte infolge des syrischen Bürgerkriegs insgesamt fast drei Millionen Flüchtlinge aus dem Land aufgenommen - und strebt deren baldige Rückkehr an. Die türkische Armee und pro-türkische Kämpfer halten Teile Nordsyriens besetzt. Sie gehen insbesondere gegen kurdische Einheiten in Nordost-Syrien vor, die von den USA unterstützt werden und die gegen die Extremisten vom Islamischen Staat (IS) gekämpft hatten und immer noch kämpfen.
In der Stadt Kamischli im Norden Syriens waren am Donnerstag tausende Menschen für die von kurdischen Kräften dominierten und von den USA unterstützten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) auf die Straße gegangen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Freitag, es sei "an der Zeit, die in Syrien existierenden Terrorgruppen auszulöschen" - und nannte in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) sowie die kurdische Arbeiterpartei PKK und deren "Verbündete". Als solche betrachtet Ankara die innerhalb der SDF dominierenden kurdischen YPG-Einheiten.
Die Türkei hat auch insgesamt fast drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen - und strebt deren baldige Rückkehr an. Die Leiterin der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Amy Pope, rief unterdessen die internationale Gemeinschaft dazu auf, die Sanktionen gegen Syrien zu überdenken. Die Maßnahmen hätten "erhebliche" Auswirkungen insbesondere auf gefährdete Bevölkerungsgruppen.
Die neuen Machthaber unter Führung der HTS rief die IOM-Chefin dazu auf, Frauen in das öffentliche Leben einzubinden. Frauen seien "von entscheidender Bedeutung" für den Wiederaufbau Syriens. Am Donnerstag hatten in Damaskus hunderte Menschen für Demokratie und Frauenrechte demonstriert.
Im Norden Syriens wurden unterdessen nach übereinstimmenden Berichten zwei türkisch-kurdische Journalisten bei einem Angriff durch eine türkische Drohne getötet. Die beiden Getöteten berichteten den Angaben zufolge über Kämpfe zwischen pro-türkischen und kurdischen Gruppen, Ihr Auto sei am Donnerstag nahe der östlich von Aleppo am Euphrat gelegenen Tischrin-Talsperre getroffen worden, erklärte der Journalistenverband Dicle Firat am Freitag.
O.Meier--NZN