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Angesichts der auf die ostukrainische Stadt Sewerodonezk vorrückenden russischen Truppen hat Präsident Wolodymyr Selenskyj die uneingeschränkte Unterstützung durch den Westen besonders mit schweren Waffen gefordert. Russlands Streitkräfte seien in dem Gebiet zahlenmäßig und auch waffentechnisch "deutlich überlegen", doch noch hielten die eigenen Truppen der "äußerst gewalttätigen Offensive" stand, sagte Selenskyj in der Nacht zum Donnerstag. Vorschläge, Kiew solle territoriale Zugeständnisse machen, wies er scharf zurück.
Moskau hatte die Offensive rund um Sewerodonezk in den vergangenen Tagen massiv ausgeweitet. Die Industriestadt und das benachbarte Lyssytschansk sind die letzten Orte in der Region Luhansk, in denen die ukrainische Armee noch Widerstand gegen die russischen Truppen leistet. Inzwischen sind die russischen Truppen bereits in die Vororte von Sewerodonezk vorgedrungen.
Die Situation sei "sehr schwierig", berichtete Gouverneur Serhij Gajdaj in Onlinenetzwerken. "Die russischen Truppen sind bereits so nahe herangerückt, dass sie Mörsergranaten abfeuern können." Nach Einschätzung des Gouverneurs "könnte die kommende Woche entscheidend sein".
Angaben pro-russischer Kämpfer, wonach Sewerodonezk bereits "eingekesselt" sei, wies Gajdaj zurück. Allerdings seien die ukrainischen Truppen gezwungen, sich nach und nach "in stärker befestigte Stellungen" zurückzuziehen.
In Lyssytschansk begräbt mittlerweile die Polizei die Toten. Gajdaj zufolge mussten mindestens 150 Leichen in einem Massengrab bestattet werden.
Außenminister Dmytro Kuleba hatte zuvor die Kämpfe im Donbass mit jenen im Zweiten Weltkrieg verglichen. "Einige Dörfer und Städte, sie existieren einfach nicht mehr", sagte Kuleba beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Laut Kuleba braucht die Ukraine "dringend" Raketenwerfer-Systeme, um den russischen Angreifern widerstehen zu können.
"Wir brauchen die Hilfe unserer Partner - vor allem Waffen für die Ukraine. Volle Hilfe, ohne Ausnahmen, ohne Grenzen, genug, um zu gewinnen", sagte auch Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache. Er warf der internationalen Gemeinschaft vor, die Interessen Russlands vor jene der Ukraine zu stellen.
Bitter reagierte der ukrainische Präsident auf einen Vorschlag des früheren US-Außenministers Henry Kissinger, der in Davos eine Rückkehr zum "Status quo" vor der russischen Invasion am 24. Februar angeregt hatte, um den Krieg zu beenden - mit der 2014 von Russland annektierten Krim und den von pro-russischen Separatisten kontrollierten Gebieten in Donezk und Luhansk.
"Es scheint, als habe Kissinger nicht das Jahr 2022 auf seinem Kalender stehen, sondern das Jahr 1938", sagte er in Anspielung auf das damalige Münchner Abkommen, das einen Teil der Tschechoslowakei an Nazi-Deutschland abtrat, um den Frieden in Europa zu sichern.
Um seine Herrschaft in bereits eroberten Gebieten im Süden der Ukraine zu festigen, kündigte Moskau an, die Bewohner der Regionen Saporischschja und Cherson in einem vereinfachten Verfahren mit russischen Pässen auszustatten. Staatschef Wladimir Putin unterzeichnete am Mittwoch einen entsprechenden Erlass. Kiew warf Moskau daraufhin "kriminelles" Verhalten vor.
In der mittlerweile vollständig unter russischer Kontrolle stehenden Hafenstadt Mariupol wurden nach ukrainischen Angaben etwa 200 Leichen im Keller eines zerstörten Gebäudes gefunden. "Wegen des Leichengeruchs ist es unmöglich, sich in dem Gebiet aufzuhalten", schrieb die Menschenrechtsbeauftragte des Parlaments, Ljudmyla Denisowa, im Onlinedienst Telegramm. "Die Besatzer haben ganz Mariupol in einen Friedhof verwandelt."
Das russische Parlament hob derweil die Altersgrenze für den Militärdienst auf. Künftig kann jeder Freiwillige, der das gesetzliche Rentenalter noch nicht erreicht hat, der Armee beitreten. Das Rentenalter liegt für Männer derzeit bei 61,5 Jahren. Bislang konnten sich nur russische Bürger zwischen 18 und 40 Jahren zum Militärdienst verpflichten.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bezeichnete den russischen Angriffskrieg als Fehlschlag. Putin habe schon jetzt "all seine strategischen Ziele verfehlt", sagte Scholz vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Dennoch besorge ihn "jeden Tag" die Frage, "ob ein Krieg ausbricht, der über den Krieg in der Ukraine hinausgreift".
F.Carpenteri--NZN