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Bei heftigen Kämpfen im Osten der Ukraine sind russische Truppen in Vororte der strategisch wichtigen Industriestadt Sewerodonezk vorgedrungen. Die Situation sei "sehr schwierig", berichtete Gouverneur Serhij Gajdaj am Mittwoch. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kritisierte derweil eine mangelnde Einigkeit des Westens. Sein Außenminister Dmytro Kuleba warf der Nato vor, angesichts des russischen Einmarsches in sein Land "buchstäblich gar nichts" zu tun.
In Sewerodonezk im ostukrainischen Donbass gebe es "bereits Kämpfe in den Vororten", erklärte Gouverneur Gajdaj in Online-Netzwerken. "Die russischen Truppen sind bereits so nahe herangerückt, dass sie Mörsergranaten abfeuern können."
Moskau hatte die Offensive rund um Sewerodonezk in den vergangenen Tagen massiv ausgeweitet. Die Stadt und ihre Nachbarstadt Lyssytschansk sind die letzten Orte in der Region Luhansk, in der die Ukraine noch Widerstand gegen die russischen Truppen leistet.
Nach Angaben der ukrainischen Präsidentschaft wurden in der Region Donezk zwölf Menschen durch "extrem starken Beschuss und Angriffe" getötet. Die südukrainische Stadt Saporischschja sei von mehreren russischen Marschflugkörpern getroffen worden, hieß es weiter. Ein Mensch sei getötet und mehrere Häuser seien beschädigt worden.
Um seine Herrschaft in bereits eroberten Gebieten im Süden der Ukraine zu festigen, kündigte Moskau an, die Bewohner der Regionen Saporischschja und Cherson in einem vereinfachten Verfahren mit russischen Pässen auszustatten. Staatschef Wladimir Putin unterzeichnete einen entsprechenden Erlass am Mittwoch. Kiew warf Moskau daraufhin "kriminelles" Verhalten vor. "Die illegale Ausstellung von Pässen ist eine Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine sowie der Normen und Prinzipien des humanitären Völkerrechts", erklärte das ukrainische Außenministerium.
Beim Weltwirtschaftsforum in Davos warb Selenskyj erneut um mehr Unterstützung für sein Land, ausdrücklich dankte er den USA für ihre Hilfe. Als europäisches Land brauche die Ukraine aber vor allem "die Unterstützung eines vereinten Europas", sagte der ukrainische Präsident.
Selenskyj kritisierte zudem den Widerstand des Nato-Mitglieds Türkei gegen den Antrag der beiden nordischen Länder Finnland und Schweden, dem Verteidigungsbündnis beizutreten. "Herrscht Einheit zum Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands? Nein. Ist der Westen also vereint? Nein."
Der ukrainische Außenminister Kuleba warf der Nato vor, sie stehe "als Institution völlig an der Außenlinie" und tue "gar nichts". Einige "Nato-Staaten helfen uns aber", schränkte Kuleba bei einer Rede vor dem Weltwirtschaftsforum. Die Regierung in Kiew wirft der Nato unter anderem vor, sich nicht klar zu einem möglichen ukrainischen Beitritt zu der westlichen Militärallianz zu positionieren.
Die Regierung in Moskau machte derweil die Sanktionen des Westens für Nahrungsmittelknappheit in der Welt verantwortlich. "Essensprobleme zu lösen verlangt ein umfassendes Vorgehen, einschließlich der Aufhebung von Sanktionen, die gegen russische Exporte und Finanztransaktionen verhängt wurden", forderte Vize-Außenminister Andrej Rudenko.
Rudenko rief zudem die Ukraine auf, ihre Häfen von Minen zu befreien. Der Hafen in der von russischen Truppen eroberten südukrainischen Stadt Mariupol nahm nach Angaben Moskaus nach der Räumung von Minen und anderen "gefährlichen Gegenständen" seinen Betrieb wieder auf.
Russland und die Ukraine produzieren zusammen 30 Prozent des weltweiten Weizenangebots. Infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine kam es jedoch zu Ernteausfällen und der Blockade von Agrarexporten. Wegen steigender Preise für Nahrungsmittel warnen Hilfsorganisationen vor einer Verschärfung des Hungers weltweit, in zahlreichen Entwicklungsländer werden Unruhen befürchtet.
Das russische Parlament hob derweil die Altersgrenze für den Militärdienst auf. Künftig kann jeder Freiwillige, der das gesetzliche Rentenalter noch nicht erreicht hat, der Armee beitreten. Das Rentenalter liegt für Männer derzeit bei 61,5 Jahren. Bislang konnten sich nur russische Bürger zwischen 18 und 40 Jahren zum Militärdienst verpflichten.
Die russische Armee hat seit ihrem Einmarsch ins Nachbarland vor drei Monaten nach Ansicht von Experten dramatische Verluste erlitten. Moskau selbst macht keine Angaben zur Zahl der Opfer. Am Mittwoch besuchte Präsident Wladimir Putin erstmals bei dem Militäreinsatz verletzte Soldaten in einem Moskauer Militärkrankenhaus.
L.Muratori--NZN